Die Bundesregierung sieht offenbar in den umstrittenen belgischen Atom-Meilern Tihange 2 und Doel 3 kein besonderes Risiko mehr. Das berichtet das ARD-Magazin "Monitor" unter Berufung auf ein Schreiben der International Nuclear Risk Assessment Group (Inrag) an das Bundesumweltministerium. In dem Brief, der "Monitor" nach eigenen Angaben vorliegt, kritisiert die Organisation, so heißt es, dass die Bundesregierung "in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, dass der Sicherheitsnachweis für Tihange 2 tragfähig sei und besondere Risiken nicht mehr bestünden". Tatsächlich aber sei das Sicherheitsrisiko heute eher größer als zuvor. Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält die Haltung der Bundesregierung laut dem Bericht für falsch. Von Unfällen in den umstrittenen Reaktoren wäre vor allem die nahe Grenzregion um Aachen betroffen.
Schon seit sechs Jahren sorgen Haarrisse im Beton der Druckbehälter der Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 für ernste Besorgnis. Zeitweise mussten die Anlagen abgeschaltet werden und die belgische Regierung versetzte die Menschen in Schrecken, als sie laut nationalem Sicherheitskonzept an alle Haushalte des Landes Jodtabletten verteilen ließ. Inzwischen aber halte die Atomaufsichtsbehörde den erforderlichen Sicherheitsnachweis für erbracht, heißt es. Und im Sommer, so die ARD-Recherchen, habe auch die Bundesregierung die sogenannten Bröckelreaktoren neu bewertet und von der Forderung Abstand genommen, die Reaktoren wegen eklatanter Sicherheitsprobleme schnellstmöglich abzuschalten. Stattdessen beurteile das Bundesumweltministerium sie nunmehr offiziell wie alle anderen älteren Kernkraftwerke in Europa. Das bedeutet: Sie wünscht sich deren Abschaltung nur noch ganz allgemein aufgrund ihrer hohen Lebensdauer.
Tihange: Experten kritisieren Bundesregierung
Für diese Änderung gebe es keine Grundlage, kritisiert die Inrag laut dem Bericht. "Das Risiko eines katastrophalen Versagens des Reaktordruckbehälters von Tihange 2 ist weiterhin nicht praktisch ausgeschlossen", heißt es laut "Monitor" in dem Schreiben an die Bundesregierung. Zu den Mitgliedern der Inrag gehören internationale Atomexperten, darunter ehemalige Leiter nationaler Aufsichtsbehörden. Die Experten würden der Bundesregierung vorwerfen, "grundlegende Sicherheitsprinzipien" aufgegeben zu haben. "Wenn wir bei der Sicherheit von Kernkraftwerken mit solchen Bewertungskriterien auskommen, dann wird es gefährlich für Europa", so Inrag-Mitglied Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, gegenüber "Monitor". Bis heute sei nicht eindeutig geklärt, wie die Risse in den Reaktordruckbehältern entstanden seien, ob sie sich vergrößert hätten und wie sie sich im Falle eines Störfalls auf die Festigkeit der Stahlwände auswirkten.
Nordrhein-Wetsfalens Landesregierung macht dem Bundesumweltministerium offenbar ebenfalls Vorhaltungen: "Nur ganz allgemein die Abschaltung alter Reaktoren zu fordern, reicht nicht aus. Die Landesregierung hält weiterhin die Abschaltung von Tihange 2 und Doel 3 aus Sicherheitserwägungen für erforderlich", sagte NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) gegenüber "Monitor". Und weiter: "Neben den Rissen in den Reaktordruckbehältern sind auch weitere Mängel in den Reaktoren aufgetreten. Wir halten deshalb auch an unserer Klage zur Stilllegung fest."
Eine "Interpretation" des Umweltministeriums?
Source: https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/tihange-und-doel–unterschaetzt-die-bundesregierung-die-broeckel-akw–8448574.html