Was hält Belgien zusammen?

Es muss ein ganz besonderer Leim sein, der Belgien als Land zusammen hält. Dieser Klebestoff tut Wunder. Er muss es in sich haben. Man könnte sich natürlich fragen: Warum diese Frage? Und warum ausgerechnet für Belgien? Was hält denn andere Länder si zusammen. Die gemeinsame Sprache aller Bürger? Das trifft nicht auf Belgien zu. Die Kultur und Traditionen? In Belgien, das erst seit 1830 als Land besteht, gibt es kaum gemeinsame Traditionen zwischen dem Norden, Osten und Süde des Landes. Und außer den drei offiziellen Landessprachen niederländisch, deutsch und französisch, sind auch die Traditionen in Flandern, in der Deutschen Gemeinschaft und in Wallonien sehr verschiedenen.

Aber es gibt ja noch andere Länder, in denen man verschiedene Sprachen spricht: Die Schweiz beispielsweise, oder Kanada. Luxemburg. China, Indien, Australien. Und in allen diesen Ländern, die seit Jahren bestehen und ‚überleben‘, hat jeder Klebstoff wohl so seine Eigenheiten.

Wäre es vielleicht im Königreich Belgien der König, der alles zusammen hält? Oder vielleicht die Macht der Gewohnheit? Eine Art fehlende Vorstellungskraft, die es verhindert, dass die meisten Belgier sich ein anderes Leben, ein anderes Land einfach nicht richtig vorstellen können? Oder ist es vielleicht gerade das Gegenteil, und der ‚gemeine‘ Belgier kann sich sehr wohl vorstellen, wenn Belgien – so wie von einer wachsenden Anzahl von rechten Politikern im Norden Belgiens vorgeschlagen – aufteilen würde in zwei oder sogar drei Teile? Ein Verbund von einzelnen Bundesländern. So wie beispielsweise in Deutschland. Oder ein Staatenbund aus Bundesstaaten. So ein wenig wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Da haben die 50 Bundesstaaten ihre eigenen Gesetze und Vorschriften.

Oder vielleicht ein bisschen von Allem: Der König, die Gewohnheit und die Angst vor der Alternative? Vielleicht sind es vor allem die Südbelgier, die sich an den Norden und Brüssel klammern, und als Belgien zusammen bleiben möchten, da sie Angst haben, ohne Norden (und Osten?) nicht Überlebensfähig zu sein. Südbelgien – Wallonien – ist nämlich insgesamt viel weniger reich als Nordbelgien – Flandern. Seit vielen Jahren versucht die Wallonische Regierung die Region von finanziellen Nöten zu befreien. Aber das gelingt nur sehr bedingt. Und sehr langsam. Mittlerweile fließen seit vielen Jahren Milliarden Eurobeträge als Finanzausgleich vom Norden nach Süden, um den Lebensstandard einigermaßen gleich zu halten.

Es gibt sehr viel Arbeitslose im Süden Belgiens, viel mehr als im Norden. Und schon alleine die kosten sehr viel Geld. Es gibt auch viele mehr Beamte pro Einwohner in Wallonien. Auch die kosten sehr viel Geld. Und nach Kohleabbau im 19. Und am Anfang des 20. Jahrhundert, folgte die Konzentration auf Stahlbau. Beides heute eher kein Sektor der Zukunft in einem modernen Land in Zentraleuropa.

Und da ist dann noch Europa. Die Tatsache, dass einige Europäische Institutionen ihren Sitz teilweise oder ganz in Brüssel haben schafft nicht nur direkt Arbeitsplätze, sondern auch sehr viele indirekte. Denn viele Organisationen suchen die Nähe zu diesen Europäischen Institutionen aus Lobbying-Gründen. Und unter diesen Organisationen sind nicht nur Verbände, Vereinigungen, Vereine, Assoziationen und Klubs, sondern auch Privatfirmen. Denn Belgien bietet Firmen interessante Steuerbedingungen, was im noch mehr Firmen anzieht. Und das schafft noch mehr Arbeitsplätze, und lässt noch mehr Geld in und um Brüssel herum zirkulieren.

Während der Wallone davon ein wenig zu profitieren weiß, weiß der Flame es in der Regel noch mehr. Denn zum Beispiel findet man Vielsprachigkeit viel öfter und leichter im Norden Belgiens als im Süden. Nur der Ostbegier – recht weit entfern von Brüssel – kann das vielleicht noch besser, da in der Regel total zweisprachig Deutsch – Französisch. Aber damit kommt man in Brüssel auch nicht unbedingt sehr weit. Ostbelgien gehört zu Wallonien.

Und während der Flame nicht viel über Wallonien weiß, und der Wallone nicht viel über Flandern (und beide eigentlich überhaupt nichts über den Deutschbelgier im Osten) besteht das Königreich Belgien weiter. Und alle versuchen das Beste daraus zu machen. Keiner der heute lebenden Belgier hat Belgien kreiert. Der Belgier heute kann nichts weiter tun, als Belgien weiter zusammen zu halten, oder zu akzeptieren, dass eine – oder mehrere Regionen oder Kulturen – nicht mehr wohl genug fühlen als Belgier.

Und während viele Belgier regelmäßig viel kritisieren – meist mehr in der anderen Region (die man eher weniger kennt, und die die öffentlichen und privaten Medien eher weniger in ihrem regionalen Programm haben) haben es Politiker nicht einfach, das Land zusammen zu halten – oder zu spalten – je nach Ansinnen. Und so lebt Belgien weiter. Und während schon viele Belgier nicht so recht verstehen, wie Belgien eigentlich im Einzelnen und im Detail ‚funktioniert‘ – mit den verschiedenen Regionen, Gemeinschaften, Provinzen, Regierungen, Parlamente, Senate, Gouverneure, Gremien, Politiker, Verbände, Organisationen, Gesetze, Ausschüsse, usw. … sollte man das erst recht nicht von Nicht-Belgiern erwarten.

Doch Belgien bleibt klasse: Chaotisch, verschlafen, dörflich, in die Vergangenheit gerichtet, Laissez-faire, unverständlich, naiv, sich wandelnd, alt und jung zugleich, sich suchend, freundlich, offen, Europäisch, ländlich, verschoben, schräg, schrill, etwas retro und cool. Einfach interessant.

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