Wie auf einen anderen Planeten – oder Leben in einem Land, in dem man weder geboren noch aufgewachsen ist, und in dem man eine (ganz) andere Sprache spricht als seine Muttersprache

Ich bin in Deutschland geboren und habe dort die ersten 28 Jahre meines Lebens verbracht. Per Zufall, das heißt ungeplant bin ich arbeitsbedingt in Belgien gelandet, wo ich seit 1995 lebe, verheiratet mit einer französischsprachigen Belgierin; Wir haben zwei Kinder.

Ich lebe im südlichen Teil des Landes, in der Wallonie, in einem sehr (sehr) kleinen Dorf, in dem man außer Französisch in der Regel ‚höchstens‘ Wallonisch spricht. Meine Frau spricht nur Französisch (kein Deutsch, kein Englisch, kein Niederländisch) und wie viele Wallonen glaubt sie für andere Sprache ‚nicht geeignet‘ zu sein. Meine Kinder verstehen recht gut Deutsch, reden ein wenig Deutch und lernen in der Schule (ein wenig) Niederländisch und (viel) Französisch.

Ich arbeite in einer belgischen Niederlassung US-Amerikanischen Firma in der Nähe von Brüssel. Tagsüber rede ich Englisch und Französisch. Sehr selten rede ich Deutsch. Nur eine wenig morgens und abends und am Wochenende mit meinen Kindern. Ich bin ganz in das Land Belgien und die Französische Sprache ‚eingetaucht‘ und ‚bade‘ in Land und Sprache seit ungefähr 20 Jahren. Obwohl ich wegen Inkompatibilität mit meiner damaligen Französischlehrerin in Deutschland am Gymnasium und wegen entsprechend schlechter Noten nie wieder Französisch sprechen wollte, hatten mich Fremdsprachen schon immer ein wenig fasziniert. Denn trotz der Anstrengung, Vokabeln und Grammatik zu lernen, ist der kulturelle Entdeckungs- und Erfahrungswert schon beeindruckend. Man sieht viele Dinge einfach fast automatisch auf einmal ganz anders. Aus einem ganz anderen Blickwinkel.

Wenn man so lange wie ich in ein und demselben Land gelebt hat, – in dem Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist, – in Deutschland, dann ist der Kulturschock schon beeindruckend, wenn man sich auf einmal in einem (ganz) anderen Land befindet. Vor allem in einem Land, das recht anders ist als Deutschland. Und in dem man nicht nur (sehr) selten Deutsch spricht oder hört, sondern auch recht anders lebt. Zwar ist Belgien in einiger Hinsicht seinem Nachbarn Deutschland ähnlich (Lebensqualität, Reichtum, Klima, Europa, etc…) aber in vielerlei Hinsicht ist es aber auch sehr verschieden. Vor allem in Brüssel und Wallonien. Brüssel ist nicht nur eine Stadt (die Hauptstadt von Belgien und Flandern), sondern auch eine Region – so etwas wie eine Art ‚Stadt-Bundesland‘ in Deutschland, wie Hamburg, Bremen oder Lübeck. Nur halt zweisprachig Niederländisch und Französisch. Mit vielen Expats und sehr vielen Zuwanderern aus arabischen Ländern.

In den 90er Jahren wohnte ich zunächst einige Jahre in einer Wohnung in Brüssel, bis ich dann mit meiner zukünftigen Frau ins ländliche Wallonien zog. Hier besitzen wir ein Haus in einem kleinen Dorf haben. Seine ‚eigene‘ Sprache nur noch sehr selten zu sprechen, und tagsüber die meiste Zeit Französisch und Englisch zu sprechen, ist recht anstrengend. Öffnet aber auch Horizonte. Man lernt enorm viel. Quasi jede Minute.

Einer der interessanten Aspekte für mich in dieser Situation ist: In welcher Sprache denkt man? In welcher Sprache träumt man? In welcher Sprache spricht man zu sich selbst? In welcher Sprache hat man Tendenz spontan zu Fluchen. Wenn ich mir eine Nachricht auf meinem eignen Anrufbeantworter hinterlasse (um etwas Wichtiges nicht zu vergessen), in welcher Sprache mache ich das? Die Antwort ist für mich: Auf Französisch.

In einem Land, in dem man weder Winnetou, Otto noch Loriot kennt, in dem Eierstecher weitgehend unbekannt sind, und speziell in einer Südbelgischen Region, in dem alles eher ‚laissez faire‘ ist, ist es nicht immer leicht, als Deutscher immer angepasst und eingegliedert zu sein. Je nach eigenem persönlichem Profil und Art, gibt es regelmäßig Momente, in denen man sich fragt, wie man den hier eigentlich ‚gelandet‘ ist? Wie es einem jeden Tag gelingt, hier zu leben. Und wie es weiter geht. Denn man kann die Landessprachen, bzw. Sprache der Region so gut verstehen und sprechen wie man will – in meinem Fall Französisch: Auch wenn man quasi alles versteht, was man hört und liest, man bleibt für viele ein Ausländer. Oder zumindest jemand, dem man nicht automatisch so schnell und viel traut, wie einem ‚Landsmann‘, einem Belgier. Oder besser, im Süden des Landes: Einem Wallonen. Denn der Akzent bleibt. Wahrscheinlich für immer. Auch wenn (sehr) viele Belgier mich nicht sofort als Deutschen oder Deutschsprachigen ‚enttarnen‘ – viele denken ich bin Engländer oder Amerikaner – so entdecke ich recht regelmäßig gewisse Zweifel auf Gesichtsausdrücken meiner Gesprächspartner. Da hilft es auch nicht unbedingt viel, dass ich nun seit ein paar Jahren die Belgische  Staatsbürgerschaft habe. Das heißt offiziell bin ich jetzt (auch) Belgier. Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft nicht ‚ablegen‘ müssen.

Vieles ist einfach unwirklich. Fast unvorstellbar, irreal, – wie in einem Traum. Einem langen Traum. Ob man aus dem jemals aufwacht? Was interessant ist, ist, dass die These, sich zu bewahrheiten scheint: Man kann sprachlich so eingegliedert, angepasst und trainiert sein wie man will: Wenn es darum geht, zu zählen, im Kopf zu rechnen, oder wenn einem spontan so aus dem Bauch heraus unter vollstem Stress ein Schimpfwort entfährt, dann passiert das höchstwahrscheinlich in seiner Muttersprache!

Es ist interessant, zu einer Minderheit zu gehören. Zu einer Minderheit, die in einem anderen Land wohnt und lebt. In einem ‚ganz‘ anderen Land. Einer ganz anderen Kultur. Einer, die den meisten ‚daheim gebliebenen‘ eher unbekannt ist. Während  einige weltoffene Deutsche Frankreich oder die Niederlande etwas kennen – zumindest die Stereotypen – und schon einmal dort verweilten, so kennen Deutsche Belgien in der Regel sehr (sehr) wenig. Denn das Land ist eher kompliziert, und für viele Deutsche eher ‚unbedeutend‘. Das heißt auch ‚klein‘ und geschichtlich nicht sehr ‚produktiv‘. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wurde Belgien von anderen Mächten Staaten und Staaten erschaffen. Als ‚Produkt‘ eines verloren Krieges, verloren von dem Franzosen Napoleon Bonaparte. Das heißt Belgien hat sich nicht unbedingt selbst gegründet und einen Platz, – ein Gebiet geschaffen, sondern andere Mächte haben ein künstlichen Land kreiert. Das hat man gemach, in dem sie von anderen Ländern, ein Stück wegnahmen – von Frankreich und von den Niederlanden, und später ein kleines bisschen auch von Deutschland.  Die einzelnen Gebiete  – Regionen und Sprachen – wurden zusammen ‚gepackt‘ und das ganze ‚Belgien‘ genannt. Und der Geschichte gerecht zu sein, muss man erwähnen, dass  ‚die Belgier‘ vor ihrer offiziellen Gründung des Landes 1830 die besetzenden Niederländer aus ‚ihrem Gebiet‘ / aus ‚dem späteren  Belgien mit Gewalt und Waffen vertrieben. Doch das ganze unter dem wohlwollenden Auge und Beobachtung der Alliierten.

Und so bin ich nun Belgier, im Französisch-sprechenden Teil des Landes. Ich bin recht integriert. Ich kenne die Geschichte des Landes ungefähr so viel wie ‚gebürtige‘ Belgier. Vielleicht kenne ich nicht all Flüsse des Landes, aber ich denke, dass auch die meisten Belgier diese nicht richtig kennen, obwohl fast alle dies in der Schule gelernt haben. Ich denke, dass ich nicht mehr deutsche Flüsse kenne.

Leben in einem anderen Land, wie in Belgien, ist ein bisschen wie auf einer Wolke leben. Wer hätte gedacht, dass ich einmal in Belgien leben würde? Ich bestimmt nicht. Denn bis vor ein paar Jahren vor meinem Umzug hierher nach Belgien, wusste ich nicht sehr viel über das Land. So wie die meisten Deutschen auch. Pünktlichkeit ist hier eher ‚relativ‘, die ‚5‘ wird hier regelmäßig einmal gerade gelassen, und wer kann, der trickst, schummelt und verbiegt die Wahrheit schon einmal ein wenig. Und das regelmäßig. Politiker und Menschen des öffentlichen Lebens machen das auch so, machen das vor. Andere machen das nach. Wer es nicht macht, ist selbst schuld. Ich bin nicht sicher, ob man in Deutschland weniger schummelt. Nur hier in Belgien scheint es mehr selbstverständlich. Und Politiker, die bei Steuerhinterziehung erwischt wurden, können einfach weiter ihr Mandat behalten.

Und während hier alles in Belgien ein wenig anders ist, und die Bürger gezwungen werden zu wählen, und während jedes Wort, jeder Satz, den ich höre oder lese, durch einen Übersetzungsfilter läuft, wird mein Gehirn trainiert. Und es wird animiert, Dinge ständig anders zu sehen. Und das ist interessant – und strengt an. Alles etwas seltsam, alles etwas anders, alles etwas sonderbar, verwunderlich, verschieden, exotisch, neu, erstaunlich, gelassener, cooler, fatalistischer. In einem Land, in dem es kaum Nationalgefühle gibt, keine gemeinsame landesweite Sprache, keine gemeinsame Kultur zwischen Nord-, Ost- und Südbelgien. In einem ‚künstlichen‘ Land, zusammengebacken aus verschiedenen Kulturen, in dem man seit seiner Gründungszeit darauf angewiesen ist, Kompromisse abzuschließen. In dem nicht alles rational und logisch ist. Vor allem, wenn man es mit der Logik seiner Muttersprache sieht. Und vielleicht nur dann!

 

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