Willkommen in der Hölle

 FOCUS Schule: Familienleben

Mittwoch, 19.09.2012, 00:00 · von

 
Pubertät ist ... wenn Eltern häufig nicht mehr weiter wissen
 

Colourbox Pubertät ist … wenn Eltern häufig nicht mehr weiter wissen

Miese Laune, freche Schnauze, erbsengroße Löcher im Ohrläppchen. Was da los ist? Pubertät. Ein Vater führt Tagebuch über den ganz normalen Wahnsinn im Zusammenleben mit seiner 14-jährigen Tochter

Montag, 7.20 Uhr
Frederike, 14, schläft den Schlaf der Gerechten. Wir haben den Rollladen hochgezogen, das Licht voll aufgedreht, ihr die Decke weggezogen. Über dem Bett unserer Tochter schweben Totenköpfe, böse geschminkte Fratzen, der riesengroße Spruch: „Willkommen in der Hölle!“. Wer weiß, vielleicht bewahrt die Horror-Wand unser Kind vor dem Erwachen? „Das ging alles so grauenhaft schnell“, jammert meine Frau, „Weihnachten hingen hier doch noch Pferdeposter.“

Pubertät nennt man das. Uns hat es besonders schwer erwischt. Satt Lady Gaga findet unsere Tochter dieses Zombie-Zeugs cool. Sie steht auch nicht auf edle Zickenklamotten à la Kate Middleton, sondern bevorzugt Schwarzes aus der Gruftie-Ecke. Ihre Musik? Heavy Metal. Aus ihrem Zimmer wummert es, als werde Stuttgart 21 kurz und klein gekloppt.

Dass Frederike morgens nicht aus den Federn kommt, scheint dagegen erfreulicherweise total normal zu sein. Wissenschaftler behaupten, bei Teenagern verändere sich der Wach-Schlaf-Takt in Richtung biologische Nachteule. Vor Mitternacht können die Armen einfach nicht einschlafen. Dummerweise geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass hierzulande Schulen dem rebellierenden jugendlichen Biorhythmus Rechnung tragen.

Was sollten Eltern also tun? Erziehungsexperten raten gern zur Methode der natürlichen Konsequenz. Heißt in diesem Fall: Zanke nicht mit deinem Kind, lass es verschlafen und zu spät zur Schule kommen. Wenn die Lehrer auf Zack sind, besteht immerhin Hoffnung, dass sie irgendwann Sanktionen verhängen, die noch unangenehmer sind als Aufstehen zu unchristlicher Zeit.

Montag, 8 Uhr
Frederike schreibt in der ersten Stunde Mathe, weshalb meine Frau im Zimmer unserer Tochter eine dieser sinnlosen Streitereien vom Zaun bricht, die mit der Formel beginnen „Wenn, du nicht sofort aufstehst, dann …“ – und mit Türenknallen enden. Immerhin stampft Frederike in Richtung Bad. Wir schauen uns triumphierend an, dann fällt unser Blick auf den vor dem Bett liegenden Laptop. Der blinkt. Der Verlauf beweist: Noch um 3.15 Uhr hat Frederike „Lord Abbadon“ besucht.

Bei Lord Abbadon, so wissen wir mittlerweile, handelt es sich um einen deutschen YouTuber, dem sich unsere Tochter „unterworfen“ hat. Sie schaut sich regelmäßig seine Video-Blödeleien an und „liked“ sie. Alles ganz harmlos. Trotzdem hat das elterliche Imperium nun ein Machtwort gesprochen: Kein Laptop im Kinderzimmer! Wir verdanken diesen Tipp unseren Freunden Tom und Ursel. Ihre beiden Söhne haben bereits Abitur, die Tochter besucht ein Elite-Gymnasium. Diesen Erfolg führen unsere Ratgeber unter anderem darauf zurückt, in Sachen Computer stets „knallhart“ gewesen zu sein. Ein Rechner für drei Kinder, und der stand im ungemütlichen Flur – so verhindert man, dass aus Kindern bleiche Internet-Freaks werden. Bei uns hat der Laptop nun seinen festen Platz im Wohnzimmer, Handys dürfen weder bei Tisch noch auf dem Klo oder in Zimmern, in denen Betten stehen, benutzt werden. Das gilt übrigens für alle Familienmitglieder. Von einem Generalverbot haben uns Tom und Ursel dringend abgeraten. Jung sein und nicht auf Facebook? Da kann man sich gleich tot stellen.

Mittwoch, 14 Uhr

 
 
Bestens gelaunt kommt Frederike aus der Schule. Die Mathe-Arbeit hat sie zwar „verkackt“, aber sie hat das Äußerste, eine Sechs, gerade noch mal abwenden können. Wir dürfen uns über eine Gnaden-Fünf freuen. Der Lehrer hat berücksichtigt, dass unsere Tochter keinen Taschenrechner dabeihatte. Zu Hause vergessen …

Schlüssel verschlumpft, Turnzeug verloren, Jacke liegen lassen, Ausweis flöten gegangen, Vokabeltest futschikato. Es ist immer und überall dasselbe. Früher gab man unglaublichen Hormonschüben die Schuld, heute dem sich aufweichenden Gehirn. Bei Pubertierenden strukturiert es sich neu, weshalb ihnen fairerweise ein Schild auf der Stirn kleben sollte: „Wegen Umbau geschlossen“.

Übrigens nimmt nicht nur das Kurzzeitgedächtnis vorübergehend Schaden. Forscher behaupten, auch Hemmungen und Impulssteuerung arbeiteten im jugendlichen Denkapparat nachweislich ungenügend. Erfahrene Eltern raten uns zu billiger Zweitmöbelgarnitur, Geduld und gnadenloser Gesetzgebung wie „Schlüssel sind immer ans Schlüsselbrett zu hängen“ oder „Schulsachen müssen abends gepackt werden“. Vielleicht sollten verschlampte Sachen vom Taschengeld ersetzt werden? Meine Frau gibt sich in dieser Sache nachgiebiger als ich, immerhin, auch sie ist ständig auf der Suche. Ihre Entschuldigung übrigens lautet: „beginnende Wechseljahrsblödheid“.

Mittwochabend:
Frederike erscheint mit einem grell-lila Schopf am Abendbrottisch. „Endgeil“, die jüngeren Brüder sind begeistert. Meine bessere Hälfte wird auf der Stelle von einem Migräneanfall gepackt, mir hat es die Sprache verschlagen. Unsere Tochter schwört Stein und Bein: „Mama hat es doch erlaubt!“ Meine Frau versichert dagegen, sie habe lediglich davon gesprochen, über eine Tönung könne „später mal“ verhandelt werden. Von der Farbe Lila, das zumindest räumt Frederike ein, war nie die Rede.

Ein Machtkampf? Eher nicht. Hier hat wohl jemand die Gelegenheit genutzt, ein nicht beinhart formuliertes Gesetz frei zu interpretieren. „Klare Ansagen machen“, simsen Tom und Ursel, die Super-Eltern. Dennoch empfehlen sie, nicht unnötig Stress zu machen und trösten: „Wächst sich doch wieder aus.“

Donnerstag, 7.25 Uhr

 
 
Frederike trauert. Jedenfalls erscheint sie komplett in Schwarz gewandet: Jeans, schlabberiges Langarm-T-Shirt, Kapuzenpulli, hohe Converse-Turnschuhe. Die Wetter-App sagt 32 Grad voraus.

Darüber klagen alle Eltern von Pubertätsmonstern: Im Winter muss man um ihre Gesundheit fürchten, sie gehen quasi nackt, im Hochsommer dagegen verhüllen sie sich, als gelte es, die Taliban zu erfreuen. Eine Studie, die solch aberwitziges Verhalten untersucht, fehlt. Insider erklären es in etwa so: Jugendliche wollen sich auf Teufel komm raus von Erwachsenen abgrenzen, allerdings auch von angepassten Klassenkameraden. Jungs, deren megaweite Buxen von den schmalen Hüften rutschen, alberne Girlies, die auf High Heels schwanken, im Winter ohne Jacke, im Sommer in Stiefeln – uns mag das alles lächerlich vorkommen, und doch gehört es zur sogenannten Jugendkultur.

Zur Sorge besteht kein Anlass, allenfalls unauffällige Teenager sind verdächtig. Langweilig bloß – oder schlummert hier womöglich ein wahrer Rebell? Wir werden es erst in Jahren wissen. So oder so: „Klamotten sind egal. Spart eure Kräfte für die wichtigen Kämpfe“, raten unsere Nachbarn, Eltern zweier Teenis. Außerdem sollten wir uns zuweilen daran erinnern, was wir früher alles angestellt haben, um zu den angesagten Leuten zu gehören. Ich trug einen Ohrring: Das war in den 80er-Jahren, zumindest für einen Mann in der Provinz, ungeheuer verwegen.

Donnerstag, 16 Uhr:
Frederike trägt ausnahmsweise Zopf. Meine Frau bemerkt, dass die seit Kindertagen durchstochenen Ohrläppchen unserer Tochter inzwischen fast einen Zentimeter groß sind. Frederike erzählt frei heraus, dass sie das mit Hilfe einer sogenannten Dehnungssichel selbst hingekriegt hat. Ihr ehrgeiziges Ziel: So aussehen wie der tätowierte und gepiercte Typ aus dem Getränkemarkt. Durch seine XXL-formatigen Hottentotten-Ohrläppchen können wir die hinter ihm stehende Ware immer prima erkennen.

Okay, es reicht. Ab jetzt werden andere Seiten aufgezogen. Ohrtunnel wie Piercings und Tattoos gehören in die Kategorie willentliche Körperverletzung. Wer noch keine 18 Jahre alt ist, braucht für derlei Brutalitäten die Einwilligung der Eltern. Diese Info mussten wir allerdings erst ergoogeln. Immerhin sind wir nun Spezialisten in Sachen Jumbo-Ohrlöcher und wissen, dass diese Scheußlichkeiten regelmäßig ausgewaschen und eingeölt sein wollen, da andernfalls schlimme Entzündungen drohen.

Frederike hat uns angefleht, ihr die Peinlichkeit zu ersparen und das Geschäft, das ihr das nötige Zubehör verkauft hat, nicht zu verklagen. Nur wenn du die Dehnungssichel wieder einsetzt und in umgekehrter Richtung arbeitest, haben wir uns ausbedungen. Sieg auf ganzer Linie. Frederike hat klein beigegeben. Bei einem Durchmesser von acht Millimetern besteht eine gute Chance, dass die Löcher wieder kleiner werden. Die Lateinlehrerin unserer Tochter hat übrigens ein Zungen-Piercing. Krass, was?

Samstag, 23 Uhr

 
 
Frederike antwortet nicht. Längst sollte sie zu Hause sein. Wozu sie ein Handy besitzt, wissen wir nicht. Unsere Tochter gönnt sich den Luxus der Unerreichbarkeit, vor allem, seit sie mit Chantale, einer Punk-Granate aus garantiert prekären Verhältnissen, am späten Abend immer auf Spielplätzen herumlungert.

Darf man das? Seinen Kindern den Umgang mit bestimmten Kindern verbieten? Nein, behaupten Tom und Ursel. Chantale nehme ja offensichtlich weder Drogen noch verführe sie unsere Tochter zum Trinken von Alkohol oder zu kriminellen Machenschaften. Wir sind also zum Abwarten verdammt, bis etwas passiert – „Tatort“-Kommissaren gleich, die eine dunkle Ahnung haben und einen Staatsanwalt, der auf Einhaltung der Gesetze pocht. Blödsinn, meinen unsere Freunde und predigen: Auch Kinder anderer Eltern verdienen unseren unvoreingenommenen Blick. Hauptsache, wir haben ein Auge drauf.

Geniale Idee: Wir werden also der armen Chantale ab sofort unser Heim öffnen und sie unter unsere Fittiche nehmen … „Bloß nicht“, sagt Frederike und verabredet sich spontan mit einer Freundin aus seligen Schachclub-Zeiten.
 

Sonntag, 9.30 Uhr

Frühstück ist fertig. Frederike hat mal wieder schlechte Laune. Zum Stadtfest will sie nicht mit. „Bloß nicht mit den Alten gesehen werden!“ Sie hat aber noch zwei wichtige Fragen: Kriege ich zum Geburtstag eine Ratte? 2. Dürfen Eltern ihren Töchtern verbieten, im Kinderzimmer Sex mit ihrem Freund zu haben?

Glaube, Liebe, Hoffnung. Wir halten uns mittlerweile für ziemlich liberal: Eine Ratte wäre okay.
 

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